12.05.2008 – Sinnfreie Schweizer Diskussionen am Beispiel von Esther Maurer und der Streetparade

12. Mai 2008

Eigentlich wollte ich ja auf keinerlei politische Diskussionen mehr im Blog eingehen. Aber die momentan vollkommen aus dem Ruder laufende Diskussion um die „Streetparade“ schlägt dem Fass wieder einmal den Boden aus. Worum geht es? Langsam, ich erkläre es.

Zitat Esther Maurer: „Jugendliche aus der ganzen Schweiz und dem Ausland kämen nach Zürich, um sich zu besaufen.“ und weiter „Bei der Streetparade 2007 mussten 250 Personen wegen Alkohol- und Drogen behandelt werden“.

Es darf angemerkt werden, dass 2007 über 800 000 Besucher anwesend waren.

Wer ist eigentlich Esther Maurer?
Tja, das fragte ich mich auch. Wahrscheinlich möchte deshalb die Zürcher Polizeivorsteherin Esther Maurer (SP) ihren Bekanntheitsgrad steigern (stehen Wahlen an??); denn bisher kannte die weder ich noch sonst irgendjemand in meinem Umfeld – und das ist gross und durchaus in oder um Zürich ansässig. Geht es momentan um diese Diskussion, so schütteln alle nur mit dem Kopf und winken ab. Jede Werbung ist eine gute Werbung, auch wenn es eine schlechte Werbung ist, wie in diesem Fall.

Aber seit der sinnfreien Diskussion um das „Barverbot“ an der grössten Veranstaltung dieser Art weltweit und eine mögliche Nichtgenehmigung der nächsten Streetparade 2009 aus vollkommen an den Haaren herbei gezogenen Argumentationen ohne jegliches Fundament und scheinbar ohne Hintergrundwissen, kennt so ziemlich jeder in Zürich die Polizeivorsteherin. Somit denke ich, dass hier ein vollkommen anderes Kalkül dahinter steckt.

„an den Haaren herbeigezogen“:
Bei 800 000 Besuchern kam es bei 250 Personen zu einer Behandlung wg. Alkohol und Drogen. Das sind glatte 0,03125 % der Besucher. Wer sich das nicht vorstellen kann: 0,3125 Promille der Besucher mussten sich wegen Alkohol ODER Drogen behandeln lassen. Oder sagen wir es anders: 3 Personen pro 10 000 Besucher!

Zum Vergleich:

„Rund 300 000 Alkoholabhängige leben in der Schweiz….“ (Quelle KTIP 2001)

Was bei 7,591 Millionen Einwohnern (2007) in der Schweiz inklusive Kind und Kegel einen Prozentsatz von 3,952 ausmacht! Oder: Von 100 Personen sind 4 alkoholabhängig.

Zum Vergleich hier die offiziellen Zahlen der „Sanitätsstation Münchner Wiesn“ vom letztjährigen Oktoberfest 2007 ohne nähere Betrachtung meinerseits:

Die Einsatzzahlen (Zahlen 2007: hochgerechnet bis Ende Oktoberfest, 2006 in Klammern: offizielle Endzahlen der 18-tägigen Wiesn) im Einzelnen:

  • Trageneinsätze: 1781 (1934)
  • Patienten: 7914 (9581)
  • Nichtärztliche Hilfeleistungen: 4693 (6077)
  • „Bierleichen“: 565 (569)
  • Abtransporte: 542 (651)
  • Operationen: 702 (595)
  • Eingesetze Helfer/Ärzte: 1549/206 (1621/207)

Stellen Sie sich einfach mal vor, der Polizeipräsident von München – Prof. Dr. Schmidbauer – würde anhand dieser Zahlen in einem Interview für eine Münchner Tageszeitungen androhen, dass nächstes Jahr das Oktoberfest – „Die Wiesn“ – nicht mehr genehmigt wird, weil der Bierkonsum dermassen überhand genommen hat!!

Schon beim Rauchverbot in den Zelten der Wiesn gab es einen mittleren Aufstand der Festwirte. Was meinen Sie, was bei dieser Drohung „nächstes Jahr kein Oktoberfest wegen saufende Jungendliche“ los wäre – nicht nur bei den Festwirten. Für Prof. Dr. Schmidbauer ist diese Diskussion sicherlich undenkbar. Aber in Zürich diskutiert man freudig mit Esther Maurer und schenkt ihr die gewünschte Beachtung. Sinnfrei!

Darüber hinaus ist die Herkunft der Zahl „250“ vom Interview und die tatsächliche Ursache der Behandlung nicht nachvollziehbar, da eine Quelle fehlt. Was aber bei dem Prozentsatz/Promillesatz bereits irrelevant ist. Sicherlich tragisch für die Betroffenen, aber der Veranstalter kann hierfür nicht verantwortlich gemacht werden. Sondern diejenigen, die sich den Alkohol und sonstige Drogen eben selbst verabreichen.

Unvorbereiteter Kreuzzug gegen den Alkohol? Oder unermesslicher Schaden für das Image der Stadt Zürich weltweit?
Der Schuss von Esther Maurer wird mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nach „Hinten“ losgehen; denn die Diskussion wurde von ihr angezettelt ohne die Auswirkungen z.B. auf den Tourismus und den Bekanntheitsgrad der Stadt Zürich und dem gleichnamigen Kanton in der Welt zu erkennen. Was schon mal für die Sinnfreiheit spricht; denn für eine Frau im Range einer Polizeivorsteherin muss einfach dieser Zusammenhang geläufig sein.

Maurus Lauber, Marketing-Leiter von Zürich Tourismus, zeigte sich erschrocken, als er das Interview mit der Drohung die Streetparade zu verbieten, gelesen hatte. Der Anlass generiere eine Wertschöpfung von 150 Millionen Franken. „Ein Wegfall der Streetparade wäre eine Katastrophe“. Zürich Tourismus werbe auf Imagebroschüren und Präsentationen im Ausland mit dem Anlass. (Quelle NZZ vom 08.05.2008). Siehe hierzu Internetseite zur Streetparade.

Siehe auch Interview mit Frank Bumann, Direktor von Zürich Tourismus „Zürich ist heute Lifestyle“, Zeitschrift Attika Ausgabe 03/2007, (Seite 7)

Frage Tanja Seufert: Eine Party ist besonders berühmt: Die Streetparade, die jedes Jahr bis zu einer Million Besucher ans Seebecken zieht. Welche Bedeutung hat dieser Mega-Event für den Tourismus?
Frank Bumann: Die Streetparade hat, was die Wahrnehmung in ausländischen Medien betrifft, eine enorme Bedeutung, sie ist ein Aushängeschild für Zürich. Wir arbeiten seit Jahren eng mit dem Verein Streetparade zusammen, was die Pressearbeit betrifft – zum Beispiel laden wir ausländische Medien ein. Der grosse Verdienst der Streetparade ist, dass Zürich dank ihr nicht mehr für eine verstaubte Bankenstadt, sondern für pulsierenden Lifestyle steht. Was die Parade für den Markenwert Zürich bedeutet, darf man nicht unterschätzen.

Auch myswitzerland.com – die globale Website des Schweizer Tourismusverbandes – präsentiert die Streetparade wie folgt:

Die Street Parade ist eine der schönsten und grössten House- und Techno-Paraden der Welt.
Der farbige und schrille Lifestyle-Event lockt jährlich hunderttausende Tanzbegeisterte nach Zürich. Die Parade ist ein bunter Mix aus Demonstration, fahrenden Lovemobiles und Live-Auftritten von Top-DJs und internationalen Stars.

Ein Verbot wäre unpopulär und würde mehrheitlich regional, überregional und international auf breites Unverständnis stossen. Somit Sinnfrei!

„Jungendliche aus der ganzen Schweiz besaufen sich in Zürich!“
Soweit ich mich erinnern kann, ist der Ausschank und der Verkauf von „harten Drogen“ darunter auch der Alkohol an Jugendliche unter 18 Jahren bereits landesweit – auch in Zürich – verboten (siehe Das Bundesgesetz über die gebrannten Wasser (Alkoholgesetz), das den Verkauf von gebrannten Wassern (Spirituosen) an Jugendliche unter 18 Jahren verbietet). Somit sind nicht die Veranstalter der Streetparade verantwortlich, falls dies trotzdem passiert, sondern die Verkäufer der Ware. Alle anderen dürfen nach eigenem Ermessen soviel trinken, wie sie wollen, wenn sie möchten, was sie aber nicht tun. (Siehe Statistik oben!)

Und: Diejenigen, die für die Einhaltung der Gesetze zuständig sind; denn ich „spinne“ den Gedankengang mal etwas weiter: Es gibt in der Schweiz das Bundesgesetz über die gebrannten Wasser (Alkoholgesetz), das den Verkauf von gebrannten Wassern (Spirituosen) an Jugendliche unter 18 Jahren verbietet. Wer verschafft Gesetzen allgemein den entsprechenden Nachdruck und ist für die Einhaltung verantwortlich?

Nur wer sich sicher fühlt, fühlt sich auch wohl. Die Bewohnerinnen und Bewohner, aber auch die Besucherinnen und Besucher des Kantons Zürich sollen sich wohl und sicher fühlen. Dazu braucht es Vorschriften und Gesetze, die das Zusammenleben regeln – und es braucht jemanden, der diesen Vorschriften und Gesetzen Nachdruck verschafft. Diese Aufgabe übernimmt die Kantonspolizei Zürich im Auftrag der Regierung und damit der Bevölkerung. (Quelle Imagebroschüre der Kantonspolizei Zürich, Seite 7)

Wenn die Zürcher Polizeivorsteherin nun feststellt, dass bei Grossveranstaltungen die Anzahl der Behandlungen verursacht durch übermässigen Drogen- und Alkoholkonsum zugenommen haben, wer hat dann den „Schwarzen Peter„? Ist diese Feststellung dann nicht ein klassisches Eigentor?

Weil wir grad bei „Fussball“ sind: Schlechtes Vorspiel für die EURO08?
Was glaubt wohl Esther Maurer werden die zahllosen Fans aus ganz Europa nächsten Monat während des Spiels und speziell danach zum Feiern trinken? Mineralwasser? Tee? Möchte Esther Maurer die Veranstalter für den Alkoholgenuss verantwortlich machen. Herr Blatter bzw. die FIFA hätte da samt Sponsor Carlsberg (gehört Feldschlösschen) ein richtiges Problem? Oder gar sämtliche Veranstaltungen, die ausserhalb der Stadien laufen, verbieten? Sinnfrei!

Letztendlich doch Werbung für die Streetparade 2008 durch Esther Maurer?
Wahrscheinlicher ist jedoch, dass Esther Maurer aktiv Werbung für die Streetparade 2008 mit dieser Aktion betreibt. Sie weiss ganz genau, dass es keine Mehrheit im Stadtrat für ein Verbot der Streetparade 2009 geben wird. Wie ich darauf komme? Eine Studie von „Verein Züri-Event“ kam zum Ergebnis, dass die „Streetparade“ das bekannteste und beliebteste Event in Zürich ist (siehe Präsentation „Akzeptanz von Grossveranstaltungen in der Stadt Zürich bei der Stadtzürcher Bevölkerung“ Seite 5).

Auch Auflagen hat es schon genug und Verschärfungen sind nicht mehr möglich und durchsetzbar. Somit nehme ich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit an, dass Frau Esther Maurer Werbung für die Streetparade 2008 machen möchte. Sie schürt die Angst in den Fans der Streetparade mit dieser Diskussion nach dem Motto: „Kommt dieses Jahr; denn vielleicht gibt es kein nächstes Mal!“

Nachtrag: Sehe ich das hier richtig, dass der Kanton Zürich 4 265 000 CHF im Jahr 2006 aus dem Reinertrag der Eidgenössischen Alkoholverwaltung EAV überwiesen bekommen hat?

Was ist meiner Meinung nach zu tun, um Jugendliche über den gefährlichen Missbrauch von Alkohol zu informieren?
Domink Dieth von der Sucht-Präventionsstelle Zürich-Oberland fasste bereits im März 2005 mögliche Massnahmen zusammen:

Neben Testkäufen und Schulung von Detailhandel und Gastrobetrieben sind folgende Schwerpunkte Bestandteil der Alkoholpolitik, die von den Suchtpräventionsstellen im Kanton Zürich unterstützt werden:

  • klar geregelte Patentvergabe (z.B. Verlangen eines Jugendschutzkonzeptes für befristete Patente)
  • Elternbildungsveranstaltungen zum Thema Risikokonsum
  • Förderung von struktureller Prävention in Schulen
  • Konzept für sensible schulische und ausserschulische Anlässe (Schulsylvester, letzter Schultag etc.)
  • Schulung von Vereinen für den regulären Vereinsbetrieb und besondere Anlässe
  • öffentliche Impulsveranstaltungen
  • Runde Tische usw.
  • Erarbeitung einer gemeindeeigenen Haltung zum Thema Alkohol und dem Umgang damit

Ende der Durchsage. Ich freue mich auf die Streetparade 2008 im August. Und ich wollte eigentlich nicht mehr über sinnfreie politische Themen schreiben. Ist schon wieder „Sommerloch“ (im Mai)?